Interview mit Ralf Yusuf Gawlick

Komponist

Ralf Yusuf Gawlick (Bild: Ralf Gawlick / Lee Pellegrini)

Ralf Yusuf Gawlick ist roma-kurdischer Abstammung und wurde 1969 in Deutschland geboren. Seine Werke umfassen Solo-, Kammer-, Orchester-, Elektroakustische-, Film und Chormusik, durchqueren eine Vielzahl von Stilen und erforschen Aspekte seines komplexen internationalen Erbes. Seine Musik wurde von einer Vielzahl von Künstlern und Organisationen in Auftrag gegeben und gefördert und ruft internationale Beachtung bei Publikum und Kritikern hervor. Zu seinen Werken der letzten Jahre zählen das elektroakustische Werk Herzliche Grüße Bruno ~ Briefe aus Stalingrad (eingespielt vom Bariton Georg Gädker und den Pianisten Moritz Ernst und Chi-Chen Wu), die achtstimmige Missa Gentis Humanæ (im Auftrag des Chores der Trinity Church, Wall Street), der Liederzyklus Kollwitz-Konnex  (…im Frieden seiner Hände) (dem Gitarristen Eliot Fisk und Sopranin Anne Harley gewidmet) sowie das autobiographische Streichquartett Imagined Memories (im Auftrag des Hugo-Wolf-Quartetts, Wien).

Gawlicks überaus vielfältiges Werk ist geprägt von Verweisen auf zentrale Elemente des westlichen Musikkanons ebenso wie der Orientierung an höchsten kompositorischen Standards. Gawlicks jüngste Komposition, O Lungo (D)rom, ein Oratorium im Auftrag des Alban Berg Ensembles Wien und gewidmet Romani Rose, dem Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, wird anlässlich des 10-jährigen Jahrestages der Errichtung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin im Oktober 2022 uraufgeführt. Seine Musik wurde vielfach veröffentlicht und wird in internationalen Konzertsälen aufgeführt (u.a. Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Carnegie Hall New York). Vom Komponisten begleitete Einspielungen seiner Werke durch die Widmungsträger liegen auf dem Label Musica Omnia und Perfect Noise vor. Ralf Gawlick ist Professor am Boston College und lebt mit seiner Frau und Musikerkollegin Basia in Newton, Massachusetts.

Franz Schubert, Streichquartett a-moll, D 804, „Rosamunde“:

Erst in jüngerer Zeit wird Schubert für seine Streichquartette die Anerkennung zuteil, die ihm gebührt; heute gilt sein Werk als ebenbürtig dem seiner Vorgänger Haydn, Mozart und Beethoven. Lange Zeit wurde der neuartige und unverwechselbare Zugang zu Form und Tonalität, wie er Schuberts späte Werke charakterisierte, als Zeichen kompositorischer Schwäche gedeutet (wenn auch schwerlich von „späten Werken“ zu reden ist bei einem Komponisten, der 31-jährig starb, in einem Alter, in dem Beethoven erst wenige seiner unvergleichlichen Meisterwerke zu Papier gebracht hatte). Der große Umfang und immense technische Schwierigkeitsgrad seiner Sonatensätze, etwa in den letzten drei Quartetten, besonders dem letzten in G-Dur, D 887, aber auch in den späten Klaviersonaten und der C-Dur-Symphonie, wurde als wenig überraschendes Zeichen dafür interpretiert, dass der „Liederfürst“ mit den prestigeträchtigeren großen instrumentalen Formen nicht so recht zu Rande kam. Freilich machte diese Sichtweise schließlich einer ausgewogenen und objektiven Beurteilung seiner bahnbrechenden Werke Platz, auch in Hinsicht auf ihre wichtige Rolle für die weitere Entwicklung der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts. Je mehr Schuberts Meisterwerke seiner späten Jahre auch in die musikalische Praxis Eingang fanden und von Musikern erarbeitet und aufgeführt wurden, desto mehr setzte sich tatsächlich die Überzeugung durch, dass Schubert mit seinem Beitrag zu der musikalischen Erschütterung, die, von Wien ausgehend, die gesamte musikalische Entwicklung des restlichen 19. Jahrhunderts prägte, Beethoven um nichts nachstand. Seine frühen Arbeiten zeugen von vollkommenem Verständnis, ja der Erfüllung des Erbes Haydns und Mozarts; sie sind von exemplarischer Form und Ausgewogenheit und zeigen doch die ganz eigene Persönlichkeit Schuberts. Kompositionen wie die B-Dur Symphonie, D 485, und die beiden Streichquartette in Es-Dur, D 87, und g-moll, D 173, sind Beispiele dieser Ästhetik. Mit ihren transparenten Texturen, der Klarheit der Themen und der harmonischen Rhythmen verkörpern sie die Essenz klassizistischen Gleichgewichts und sind Verkörperung der Ideale der Aufklärung.

Wie Mozart, Haydn und Beethoven nutzte Schubert das Medium Streichquartett als Laboratorium und Versuchsstation neuer musikalischer Ideen, einem auf seine vier wesentlichen Elemente reduzierten Miniaturorchester gleich. Er konnte dabei auf unmittelbare praktische Erfahrung zurückgreifen, spielte doch auch die Familie Schubert Streichquartett. Nicht zufällig war etwa das erste halbe Dutzend seiner Quartette in technischer wie musikalischer Hinsicht für die Aufführung als Hausmusik gedacht. Höhepunkt dieser frühen Arbeiten ist wohl das Quartett in g-moll, D 173, aus dem Jahre 1816, das besonders der ersten Violine ein neues, bisher unerreichtes Maß an Virtuosität abverlangt. Im Dezember 1820 betrat Schubert schließlich Neuland mit dem Quartett in c-moll, D 703; er vollendete nur den ersten Satz dieses Werks, der als „Quartettsatz“ und kammermusikalisches Gegenstück zur Unvollendeten Symphonie in die Musikgeschichte eingehen sollte. Dieses einsätzige Werk lässt alle bisherigen Kompositionen Schuberts hinter sich zurück. Es ist geprägt durch den dramatischen Einsatz von Streichertechnik – etwa das geheimnisvolle Tremolo-Thema zu Beginn -, die deutlich aktivere und konsequente Rolle des Cellos und die äußerst komplexe Durchführung, an der abzulesen ist, wie tiefgreifend Schubert mittlerweile Beethovens Erweiterung und Verwandlung der klassischen Sonatensatzform verinnerlicht hatte. Nur wenige Jahre später, 1823/24, sollte Schubert in unmittelbaren Kontakt mit Musikern aus Beethovens Umfeld treten, darunter dem Geiger Ignaz Schuppanzigh, dem Gründer des ersten professionellen Streichquartetts der Musikgeschichte. Diese Begegnung eröffnete ihm Möglichkeiten der Aufführungspraxis wie der Komposition, von denen er bis dahin wohl nur geträumt hatte.

Am 31. März 1824 schrieb Schubert an seinen Freund Leopold Kupelwieser:

In Liedern hab ich wenig Neues komponiert. Dagegen versuchte ich mich in mehreren Instrumentalsachen, denn ich componirte 2 Quartetten für Violinen, Viola u. Violoncello u. ein Octett, u. will noch ein Quartetto schreiben, überhaupt will ich auf diese Art den Weg zur großen Sinfonie bahnen.

Schubert bezieht sich hier auf die Streichquartette in a-moll, D 804 („Rosamunde“), das heute zur Aufführung kommt, und in d-moll, D 810 („Der Tod und das Mädchen“) sowie auf das noch zu komponierende Quartett in G-Dur, D 887, das er im Juni 1826 innerhalb von 10 Tagen schrieb. Das Quartett in a-moll ist das einzige von Schuberts Quartetten, das zu seinen Lebzeiten publiziert wurde, im September 1824 als Opus 29/1. Es war dem Geiger Schuppanzigh gewidmet und erklang zum ersten Mal zwei Wochen vor Schuberts Brief, am 14. März, durch das Schuppanzigh-Quartett, gemeinsam mit Beethovens populärem Septett op. 20. Moritz von Schwind bemerkte über diese Uraufführung:

Das Quartett von Schubert wurde aufgeführt, nach seiner Meinung etwas langsam, aber sehr rein und zart. Es ist im ganzen sehr weich, aber von der Art, daß einem die Melodie bleibt wie von Liedern, ganz Empfindung und ganz ausgesprochen.

Die Quartette in a-moll und d-moll müssen fast gleichzeitig komponiert worden sein, denn sie haben deutliche, philosophische wie strukturelle, Ähnlichkeiten, nicht zuletzt in den Variationen über bereits bestehende Themen, die jeweils den langsamen Satz ausmachen. Ein weiteres Merkmal der beiden Werke – und neuerlicher Hinweis auf Schuberts Weiterentwicklung des Vorbilds Beethoven – ist die Idee der zyklischen Komposition, deren thematisches Material über die Satzgrenzen hinweg wiederkehrt oder erkennbar integriert ist. Ein drittes Merkmal, tatsächlich ein besonderes Charakteristikum von Schuberts Universum, das wohl im letzten Quartett, D 887, zur höchsten Entfaltung kommt, ist die ständige Gegenüberstellung der parallelen Dur- und Moll-Tonarten; durch diese Verknüpfung verschwimmen die Grenzen von Dur und Moll, ja, es scheinen die Tonarten einander gewissermaßen in ihren ureigenen Eigenschaften zu durchdringen. Nicht zuletzt mögen auch die zahlreichen Misserfolge auf dem Gebiet der Oper Schubert in seiner Entwicklung hin zur Instrumentalmusik bestärkt haben (Ist der Gedanke zulässig, dass seine Musik einfach zu gut für eine Oper, sicher aber für die ihm vorliegenden Libretti, war?). Bewusst schien er nun dem Vorbild Beethoven folgen zu wollen, dessen Freunde und Weggefährten er ja erst kürzlich kennen gelernt hatte; auf Beethovens Spuren konzentrierte er sich auf die Kammermusik und den „Weg zur großen Sinfonie“.

Der Eröffnungssatz des a-moll Quartetts ist durchdrungen von derselben brütenden Intensität, die schon den Quartettsatz prägte, wenn auch in langsamerem Tempo und zweifellos aus ganz anderen Gründen. Das erste Thema besteht aus dem denkbar einfachsten Mittel, einer traurigen Weise mit einem absteigenden a-moll Arpeggio über einer „Spinnrad“-Begleitung, ähnlich der frühen Goethe-Vertonung „Gretchen am Spinnrade“. Darunter läuft eine verstörende Tremolando-Basslinie. Schuberts wehmütiger Verweis auf sein eigenes früheres und sehr populäres Lied ist wahrscheinlich kein Zufall, musste er doch just zu dieser Zeit erkennen, dass seine Gesundheit, ohnehin angegriffen seit seiner Syphiliserkrankung 1823, nie wieder völlig hergestellt werden sollte. Im schon erwähnten Brief an Kupelwieser vom 31. März zitiert er Goethes Lied des Gretchen:

Ich fühle mich als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt. Denk dir einen Menschen, dessen Gesundheit nie mehr richtig werden will. Der aus Verzweiflung darüber die Sache immer schlechter statt besser macht, denke dir einen Menschen, sage ich, dessen glänzendste Hoffnungen zunichte geworden sind, dem das Glück der Liebe u. Freundschaft nichts bietet als höchsten Schmerz, dem Begeisterung (wenigstens anregende) für das Schöne zu schwinden droht, und frage dich, ob das nicht ein elender, unglücklicher Mensch ist? „Meine Ruh ist hin, mein Herz ist schwer, ich finde sie nimmer und nimmermehr“, so kann ich wohl jetzt alle Tage singen, denn jede Nacht, wenn ich schlafen geh, hoff ich nicht mehr zu erwachen, und jeder Morgen kündet mir nur den gestrigen Gram.

Zusätzlich zu seiner angegriffenen Gesundheit war Schubert laut seinem Biographen John Reed auch enttäuscht vom Geschmack der Wiener und ihrem Hang zur Trivialität in den Jahren von Metternichs absolutistischer Neuordnung Europas, dem beginnenden Biedermeier. Reed nennt das a-moll Quartett einen „romantischen Ausflug in das Land der verlorenen Zufriedenheit“.

Der zweite Satz, dem das Quartett seinen heute gebräuchlichen Namen verdankt (der freilich nicht von Schubert selbst stammt), baut auf einem Thema auf, das Schubert auch im Entr’Acte nach dem 3. Akt von „Rosamunde“ verwendete (Musikwissenschafter/innen sind uneins, was zuerst kam). Die Dur-Tonart dieses Satzes klingt noch trauriger, als es eine Moll-Tonart vermag, und macht aufs eindringlichste Schuberts bittersüße Stimmung spürbar, wie sie gerade in diesem kritischen, ja verzweifelten Moment seines Lebens geherrscht haben mag. Die Variationen des Themas sind von so tiefgreifender Intensität, dass die wegweisende Rolle Schuberts als Befreier der Dur/Moll-Tonalität wahrhaft und dramatisch deutlich wird; er beschreitet hier den Weg in eine Zukunft plötzlicher, nahtloser Modulation zwischen nahezu allen Tonarten.

Bei seiner Uraufführung galt der bewegende dritte Satz als der gelungenste; noch heißt er „minuetto“, nicht „scherzo“. Er setzt ein mit einem geheimnisvoll unvollständigen Dreiklang des Cellos (E D E – Dominante und Subdominante von a-moll), dem die hohen Streicher antworten, bevor der Satz gemessen fortfährt, als schattenhafte Reminiszenz eines Menuetts. Sehnsucht, dieses komplexe Gefühl von Wehmut und Begehren, hier wird sie hörbar. Das Thema sowie die Brücke zwischen Menuett und Trio zitiert Schuberts Vertonung von Schillers „Die Götter Griechenlands“, D 677 („Schöne Welt, wo bist du? – Kehre wieder, / holdes Blütenalter der Natur“). Der zu Schuberts Zeit bereits etwas antiquiert anmutende Tanz wird hier ohne Zweifel bewusst als Reminiszenz eingesetzt. Er zeigt auf berührende Weise, wie sich ein Tanz, ein Rhythmus, der uns aus der Musik Haydns, Mozarts und des jungen Schubert selbst so vertraut ist, gewandelt hat; vielleicht hören wir hier ein bewusstes Lebewohl Schuberts an sein früheres, sorgloseres Leben.

Der vierte Satz mit seinem gemäßigten Allegro ist kaum jenes ausgelassene Finale, das man am Ende eines 40-minütigen Stücks erwarten würde; er ist auch deutlich zurückhaltender als die Finalsätze der beiden anderen Quartette der Trilogie, D 810 und 887. Es ist ein sanfter und doch dunkler Satz in A-Dur, und eine ungewöhnliche Version eines Rondos. Nicht nur das erste Thema, sondern gleich zwei Themen werden wiederholt, gemäß dem Muster A B A C B Coda. Die Coda baut auf Elementen des Refrains auf statt, wie sonst üblich, den ersten Satz wiederaufzugreifen. Dies ist ein weiteres Beispiel für Schuberts tiefgreifendes Verständnis der klassischen Formensprache und für seine Bereitschaft, diese Formen auf neuartige Weise einzusetzen und zu verwandeln; deutlich wird dies etwa auch im Auftritt des zweiten Themas in dunklem cis-moll an Stelle des zu erwartenden dominanten E-Dur.

Üblicherweise ist es Beethoven, der als musikalischer Revolutionär, als Komponist des Wandels und als Brückenbauer zwischen zwei Welten gesehen wird. In seiner so viel kürzeren und intensiveren Schaffensperiode (nur acht Jahre vom Quartettsatz zum großen Streichquintett D 956) war es aber Schubert, der noch weiter ging in seiner Neu-Erfindung der Idee der Kammermusik für Streicher. Mit seinem Zyklus von 15 Quartetten sowie dem einzigartigen Streichquintett überschritt Schubert wahrhaft den Rubikon zwischen der kontrollierten und ausgewogenen Ästhetik der Aufklärung und den grenzenlosen Möglichkeiten der Fantasie, wie sie die beginnende Ära der Romantik ermöglichen sollte.

Peter Watchorn (Übersetzung: Ilse Wolfram, Wien)

 

Imagined Memories (Bîranînên Xeyalî)

Auftragswerk des Hugo Wolf Quartetts

-Eine musikalische Erinnerung-

Imagined Memories ist ein autobiografisches Werk, das eine nie gelebte Beziehung auslotet: die Verbindung zu meiner Mutter, die ich nie kennengelernt habe. Die Komposition illustriert eine konkrete persönliche Geschichte mit den Mitteln der Musik. Dabei fiel die Entscheidung für das Streichquartett als angemessene Form sehr bewusst: Obwohl die psychologischen und musikalischen Profile des Werks auf sehr tiefe Weise persönliches Erleben widerspiegeln, habe ich – mit Ausnahme der imaginierten Erinnerung selbst – auf jegliche außermusikalische, literarische oder visuelle Bilder verzichtet. Das Persönliche findet also seine musikalische Stimme im Kollektiven der absoluten Musik. Zuhörer und Zuhörerinnen haben Anteil an emotionalen Landschaften des menschlichen Daseins, die uns letztlich alle berühren.

Das Beziehungsgeflecht von „was war“, „was ist“ und „was sein wird“ definiert unsere Existenz. Zeit wird zum nicht-zielgerichteten Raum, in dem unsere Selbstwahrnehmung, ja unsere Identität durch die Wechselwirkung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geformt wird; der Schlüssel für die Bildung von Identität aber ist Erinnerung. Indem Erinnerung literarisch abgebildet wird, entsteht ein Archiv der Erinnerung, das sie bewahrt und dem Individuum einen Sinn weist im neutralen Kontinuum von Zeit und Raum. Imagined Memories ist mein musikalisches Archiv: Es enthält intime musikalische Reflexionen einer imaginierten Erinnerung, einer fernen, von mir getrennten Vergangenheit.

Imagined Memories (Biraninȇn Xeyali)

Ich war Waise. Am Beginn meiner Existenz stehen Erinnerungen, die ich nicht bewusst aufrufen kann. Tatsächlich weiß ich nicht, kann ich nicht wissen, was wirklich geschah. Ich wurde geboren als Kind einer jungen Kurdin (etwas jünger als mein eigener Sohn heute) in einer deutschen Kleinstadt (Pfaffenhofen an der Ilm), fern ihrer Heimat Istanbul. Wie man mir sagte, hatte sie große Risiken auf sich genommen, um mich zur Welt zu bringen, ließ mich gleich nach meiner Geburt zur Adoption in ein Waisenhaus bringen und kehrte darauf in ihre alte Heimat zurück. Ich möchte von einem Menschenpaar schreiben, das durch Blut und die Vorstellung einer gemeinsamen Erinnerung miteinander verbunden ist […]. Unserer so kurzen gemeinsamen Zeit verdanke ich den Namen, den sie, Naciye, mir gab: Yusuf Mustafa Zeren.

Imagined Memories entfaltet sich in einer kontinuierlichen Abfolge musikalischer Ereignisse, in denen Erinnerungen aufgerufen werden. Es sind Erinnerungen an jene Räume emotionaler Erfahrung, die in meinem Unterbewussten begraben sind. Diese Gedächtnisräume, in denen Naciye und ich gemeinsam wohnten, bevor, während und nachdem sie mich weggab, bilden das zentrale Gedächtnis Dreieck des Stücks. Es besteht aus Gedächtnisräumen, Identitäten und Spuren. Die Sprachen des Titels meines Stücks und seiner einzelnen Abschnitte (Kurdisch, Deutsch, Englisch, Polnisch) spiegeln meine Identität wider, wie sie von Vergangenheit und Gegenwart geprägt ist.

Der Akt der Erinnerung

Verzerrung / Vermutung / Vergeblichkeit / Liebe

Wejście (Eingang)

Gedächtnis Dreieck (… Gedächtnisräume / Identitäten / Spuren)

Wyście (Ausgang)

Der Akt der Erinnerung beginnt mit instrumentalem Klang, der musikalischen Atem nachahmt: Spieltechniken, die ein Ein- und Ausatmen imitieren, bezeugen, ja bestärken die Vorstellung, dass alle kommenden Erinnerungen lebendig sind. Das physische Mittel, mit dem Erinnerung aufgerufen wird, sind die Saiten der Instrumente selbst. Sowohl die Erinnerungen (Zitate, aus denen der Akt der Erinnerung entsteht, s.u.) als auch die Vorstellung von Erinnerung innerhalb des Gedächtnis Dreiecks müssen musikalisch „gefunden“ werden. Um sie zu „finden“, müssen die Musiker im buchstäblichen Sinn den Finger auf sie legen. Der Akt der Erinnerung beginnt, einer leeren Leinwand gleich, mit offenen Saiten und den von ihnen erzeugten natürlichen Harmonien, gefolgt von einem Abschnitt, in dem die eigentlichen Erinnerungen „be-griffen“ werden. Nach den natürlichen Harmonien der Einleitung bewegt sich der Prozess des Erinnerns vom Allgemeinen zum Besonderen. Zunächst enthüllt sich das kollektive Gedächtnis, dargestellt durch Zitate, deren vertraute Klänge ein Band der Erinnerung, ein Gefühl von Vertrautheit und eine Verbindung zwischen Zuhörer/Zuhörerin und mir schaffen.

Ein Zitat ist selbst gewissermaßen ein Akt der „Gewalt“, indem es etwas ursprünglich Vorhandenes entwurzelt und verpflanzt. Hier dienen Zitate der musikalischen Manifestation von Erinnerung. Dieser Vorgang folgt dem folgenden Muster: Zitat ist Erinnerung. Da Erinnerung naturgemäß das ursprüngliche Ereignis verzerrt, wird die verzerrte Erinnerung durch verzerrtes Zitieren dargestellt.

In diesem Abschnitt entfalten sich die verzerrten Zitate (17, entsprechend den 17 Erinnerungsspuren in weiterer Folge) innerhalb sämtlicher Stimmen des Quartetts und zwischen ihnen. So entsteht eine strukturelle Mehrschichtigkeit, ein Palimpsest. Die wiederholte Überlagerung von Erinnerungen erzeugt ein mehrschichtiges Werk, in dem diese sowohl voneinander getrennt sind als auch einander überlagern. Neue Erinnerungen lagern sich entlang den bleibenden Spuren früherer Erinnerungen ab. Zitate – also Erinnerungen – werden gleichsam übereinander gestapelt und treten zueinander in nicht-lineare Beziehungen mit zunehmend verschwimmenden Konturen.

Alle Zitate in Imagined Memories entstammen dem Repertoire des Streichquartetts. Auf diese Weise wird das Werk unweigerlich Teil jenes „filo rosso al passato“, des roten Fadens, der Vergangenheit und Gegenwart miteinander verbindet. Die „Erinnerungszitate“ setzen mit den eindringlichen Figuren in Melodie und Begleitung zu Beginn von Schuberts Rosamunde Quartett ein. Diese Stimmen tauchen in Wejście ein – und sie tauchen wieder auf, der Erinnerung einer Erinnerung gleich, in der strukturellen Annäherung von Gedächtnis Dreieck und Wyście in der letzten, der 17. der Fußspuren.

Wejście (Eingang) bezieht sich auf den Ein- oder Übergang vom konzeptuellen Akt der Erinnerung zu meinen eigenen, intimen “imaginierten Erinnerungen“. Indem Zitate Erinnerungen auslösen und so eine Verbindung mit dem Zuhörer, der Zuhörerin herstellen, werden diese zu aktiven Teilhabern des musikalischen Prozesses, während sich meine eigene Rolle von der des Komponisten als Zuseher zu der des Komponisten als handelnder Figur wandelt. Diese Wandlung spiegelt sich in der Instrumentierung des Stücks wider, indem den Streichern jeweils eine der drei zentralen Identitäten zugeordnet wird. Wie eine Erscheinung, eine Erinnerung seiner selbst, werden RYG (Ralf Yusuf Gawlick) und YMZ (Yusuf Mustafa Zeren) durch die erste und zweite Violine wiedergegeben (quasi ident, ähnlich und doch so verschieden…) und NA durch die Viola, eine sehr nahe Verwandte in der Streicherfamilie. Das Cello symbolisiert die Fantasie, die Vorstellungskraft und wirkt als Katalysator und Auslöser der Bewegung in das und im Gedächtnis Dreieck.  Nach einem Dialog in den hohen Lagen spielt das Cello gemeinsam mit der zweiten Violine den Übergang zu einer Passage im Stil der Kamantsche, des traditionellen kaukasischen und anatolischen Streichinstruments, das im gesamten Nahen Osten und auch in der kurdischen Kultur eine Rolle spielt. Der Klang der Kamantsche wird das gesamte Gedächtnis Dreieck definieren.

Das Gedächtnis Dreieck folgt 17 Spuren, „Erinnerungsspuren“. Die Zahl 17 entspricht bestimmten Kriterien, die sich aus meinem (meinen beiden) Namen ergeben: Mein voller Name schließt den Namen meiner imaginierten Erinnerungen in sich ein – Ralf [Yusuf Mustafa Zeren] Gawlick oder R[YMZ]G. Eine visuelle Darstellung der Fußspuren, die innerhalb und zwischen den einzelnen Erinnerungsräumen erscheinen, findet sich in der übergroßen dreieckigen Konstruktion einer Partitur, die hinter den Musikern aufgebaut wird. Ausgehend von 1 / Eintritt in das „Gedächtnis Dreieck“, bilden die Fußspuren einen – wie die Erinnerung selbst – nicht-linearen Weg, bis sie bei 17 zu ihrem Ausgang gelangen.

Jeder der Spuren (z.B. Spur 1: Trennung / RYG + YMZ: Terror) sind drei Bedeutungen zugeordnet: Die erste ist ein Erinnerungsraum, in dem sich die Erinnerung auf ein Davor, auf die Trennung oder das Danach bezieht. Eine zweite Bedeutungsebene definiert die drei wichtigsten Identitäten (als Figuren oder Auslöser meiner Erinnerung), wie sie vom jeweils entsprechenden Instrument dargestellt werden: 1) Das Ich (RYG), das sich die Erinnerung als YMZ „vorstellt“ (als RYG + YMZ von der ersten und zweiten Geigen und dem Violoncello ausgedrückt); 2) das Ich, das sich Naciyes Erinnerung „vorstellt“ (ausgedrückt als RYG + NA von der ersten Violine, Viola und Violoncello), und 3) Naciyes Erinnerung (ausgedrückt als NA von der Viola und …). Die vorherrschenden Muster innerhalb des Gedächtnis Dreiecks sind folglich ebendiese – dramaturgisch motivierten – dreistimmigen Texturen in ihren unterschiedlichen Kombinationen. Nur gelegentlich, dann aber umso eindringlicher, treten vierstimmige Texturen auf. An solchen Stellen, etwa in Fußspur 7 (Liebe) und 13 (Leere), schließt sich die zweite Violine dem Ensemble an, wie um zu sagen, dass YMZ, die Erscheinung meines Ichs in der Vergangenheit, hier nicht mehr schweigen kann…

Schließlich enthält jeder Raum, jede Identität emotionale Spuren, Zustände und Erfahrungen. In (RYG + YMZ) und (RYG + NA) sind dies etwa Schrecken, Einsamkeit, Liebe, Seligkeit, Sehnsucht, Erleichterung, Angst und Furcht. Außerdem werden gegensätzliche psychische Verfasstheiten in die imaginierte Erinnerung Naciyes projiziert und machen deutlich, dass Gnade/Ungnade, Stolz/Scham und Ehre/Unehre notwendigerweise zusammen gehören wie die zwei Seiten unserer Erfahrung.

In jeder von Naciyes fünf Erinnerungsspuren (NA) bleibt das Cello auffallend abwesend. Aus gutem Grund: Weil in diesen Erinnerungsräumen nur sie allein ihre ureigenen Erinnerungen kennt, muss das Cello, in seiner Rolle als Symbol der Vorstellungskraft, hier schweigen. Doch so unbekannt mir ihre Erinnerungen auch bleiben, sie existieren dennoch, in fernen Erinnerungsräumen, und werden durch das symbolische Instrumentenpaar von zweiter Violine und Viola erfahrbar gemacht. Ihnen schließt sich die erste Violine an, um den Widerspruch von enger Verbindung einerseits und wachsendem Abstand zwischen ihr und mir, in Vergangenheit und Gegenwart, andererseits zu veranschaulichen.

Wenn sich am Ende die Zitate des „Gedächtnis Dreiecks“ verbinden mit den Zitaten des Repertoires in der letzten der Spuren, wird schließlich deutlich, dass das Material des Gedächtnis Dreiecks Teil jenes Repertoires geworden ist, das gemeinsam unseren gegenwärtigen kollektiven „Erinnerungspool“ ausmacht. Der 17. Spur wohnt daher auch eine signifikante Doppelfunktion für die Struktur des Stücks inne: Sie ist sowohl das Ende des Weges, den die Spuren innerhalb des Gedächtnis Dreiecks zurückgelegt haben, als auch als deren Ausgang, oder Wyjście. Dieser Ausgang erfüllt wiederum die zentrale Funktion des Raumes, in dem der Akt der Erinnerung und das Gedächtnis Dreieck einander kreuzen / miteinander verschmelzen und zur Substanz ihrer jeweiligen Existenz werden. Meine Erinnerungen, die nun dem kollektiven Strom und Kontinuum von Zitaten angehören, werden so zu einem engen Band der Erfahrung zwischen dem Individuum und der kollektiven Zuhörerschaft.

Imagined Memories ist ein Stück, das meine junge Mutter wohl nie zu hören bekommt. In der Ferne nimmt sie meine Musik wahr als die Stille, die mit jedem Tag größer wird. Und irgendwann (wie ja auch in diesem Stück) „[…] kommt alles zu einem Stillstand, und die Zeit stottert weiter. Wie im Kino, wenn das Bild durch ein technisches Gebrechen plötzlich verschwindet, und wir im Dunkeln des Saals nichts mehr hören als das Geräusch der Maschine, die weiterläuft … vor einer leeren Leinwand“ (Camus).

Die leere Leinwand nach dem Ende des Films ist die Stille nach den letzten Tönen der Vorstellung von Erinnerung, der „imagined memories“. Wie die Zeit (und die Maschine) am Ende des Films, am Ende der Filmrolle noch hörbar weiterstottert, verschmilzt die „hörbare Stille“ innerhalb meiner Vorstellung von Erinnerung – vor, während und nach unserer Trennung – mit der ständigen absoluten Stille zwischen ihr und mir. Diese Stille geht in mein – unser – kollektives Gedächtnis ein. Ich bin gesegnet mit zwei Müttern in meinem Leben. Dieses Stück ist der gewidmet, der ich wohl nie begegnen werde… bis es geschah…

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Nach der Uraufführung in 2016 entfaltete sich die unwahrscheinlichste Reihe an Ereignissen. Nach einer fast jahrzehntelangen Suche fand ich Naciye in der Türkei, sprach mit ihr das erste Mal im Oktober 2017 über Skype und arrangierte dann im Januar 2018 ihren Besuch zur Aufführung von Imagined Memories, dem ihr gewidmeten Stück, im Wiener Musikverein. Hier haben wir uns zum ersten Mal seit meiner Geburt vor fast 50 Jahren getroffen und umarmt, wo sie mir offenbarte, dass sie keine Kurdin ist (wie mir gesagt wurde), sondern Romni!

Ralf Yusuf Gawlick